Von Dr. med. Bernd Guzek
Einleitung
„Ein Glas Rotwein am Tag schützt das Herz.“ „Bier ist gesund wegen der Vitamine“ – diese Sätze hört man immer wieder. Für viele dienen sie als bequeme Ausrede: Wenn schon Alkohol trinken, dann doch bitte mit gutem Gewissen. Dabei hat die Wissenschaft längst gezeigt: Das ist ein Mythos. Trotzdem befeuert die Getränkeindustrie diese Vorstellungen geschickt, indem sie einzelne Studien herausgreift und positive Botschaften verstärkt.
In diesem Artikel schauen wir genauer hin: Was ist Alkohol eigentlich? Was steckt hinter der Behauptung, er könne gesund sein? Und welche Folgen hat er wirklich für unsere Gesundheit – selbst in kleinen Mengen?
Was ist Alkohol?
Ethanol, der Trinkalkohol, ist ein Neurotoxin und ein Karzinogen. Er entsteht, wenn Hefen Zucker vergären. Für die Hefe ist das ein Überlebensvorteil: Alkohol tötet konkurrierende Mikroben ab – was wir uns schon lange in Desinfektionsmitteln zu nutze machen, denn die bestehen zumeist aus Alkoholen. Der Mensch verträgt ihn besser – aber auch nur scheinbar. Denn in ausreichend hoher Dosis ist Ethanol auch für Menschen tödlich. Aber bereits weit darunter richtet er dauerhafte Schäden an.
Besonders problematisch: das Abhängigkeitspotenzial. Alkohol wirkt direkt auf das Belohnungssystem im Gehirn, fördert Toleranzentwicklung und macht süchtig. Das ist einer der Gründe, warum er so tief in unsere Kultur eingebettet ist – und gleichzeitig zu den größten vermeidbaren Krankheitslasten weltweit gehört.
Was ist dran am Satz „Alkohol ist gesund“?
Verzerrte Studien
Wenn man Zeitungsartikel liest, stößt man oft auf Sätze wie „Moderater Konsum verlängert das Leben“. Solche Schlagzeilen beruhen meist auf Kohortenstudien – also Untersuchungen, bei denen große Gruppen von Menschen über viele Jahre beobachtet werden. Klingt solide, hat aber Haken: Die Auswertung steht und fällt damit, mit wem man vergleicht.
Forscher brauchen dazu immer eine Vergleichsgruppe („Referenzgruppe“). Nur wenn man die Gruppe der Wein- oder Biertrinker mit einer passenden Vergleichsgruppe gegenüberstellt, lässt sich überhaupt etwas über Unterschiede im Sterberisiko sagen. Und genau hier passieren die entscheidenden Verzerrungen.
Ein Forscherteam um Stockwell hat 2024 mehr als 100 solcher Studien analysiert [1]. Ergebnis: Die scheinbaren Vorteile verschwinden, sobald man die Verzerrungen herausrechnet. Typische Fehler sind:
- „Ehemalige Trinker“ landen bei den Abstinenten. Wer aus gesundheitlichen Gründen aufgehört hat zu trinken (Herzinfarkt, Krebs, Leberprobleme …), gilt dann als „Nichttrinker“. Diese Menschen sind aber schon kränker als der Durchschnitt. Im Vergleich wirken die moderaten Trinker plötzlich gesünder – obwohl der Unterschied nur durch die falsche Einordnung entsteht. In mehreren großen US-amerikanischen Studien (z. B. NHANES) zeigte sich, dass in der Gruppe der „Abstinenten“ teilweise über ein Drittel ehemalige Trinker waren, die den Alkohol wegen bereits bestehender Krankheiten aufgegeben hatten. Diese Menschen hatten natürlich eine höhere Sterblichkeit – nicht weil sie keinen Alkohol mehr tranken, sondern weil sie schon krank waren. Wenn man diese „Ex-Trinker“ herausrechnet und nur lebenslange Abstinente mit moderaten Trinkern vergleicht, verschwindet der scheinbare Überlebensvorteil der moderaten Trinker sofort. [1]
- Auch Gelegenheits- oder Selten-Trinker zählen zu den „Abstinenten“. Wer nur einmal im Monat ein Glas trinkt, lebt anders als jemand, der nie Alkohol anrührt. Wenn beide zusammen in der Vergleichsgruppe landen, verwässert das den Unterschied – und macht die Trinker künstlich besser.
- Zu kurze Beobachtungszeiten oder unpassende Altersgruppen: Wenn man Menschen nur wenige Jahre beobachtet oder sehr junge Gruppen untersucht, zeigt sich der Schaden des Alkohols noch nicht. Viele Erkrankungen treten erst ab 50 oder 60 auf. Studien mit zu kurzer Laufzeit unterschätzen die Risiken daher massiv. In der „Canadian National Population Health Survey“ beispielsweise sah es zunächst so aus, als hätten moderate Trinker das geringste Sterberisiko. Als die Auswertung aber nur die über 60-Jährigen betrachtete und die Nachbeobachtungszeit verlängert wurde, kippte das Bild: Die Risiken stiegen linear mit dem Konsum, und ein Vorteil war nicht mehr erkennbar. [2]
Kurz gesagt: Wenn die Vergleichsgruppen nicht sauber definiert sind, entsteht der Eindruck, moderater Alkoholkonsum sei gesund. In Wirklichkeit liegt es daran, dass die Abstinenzgruppe „künstlich kränker“ gemacht wird oder die Risiken zeitlich noch nicht sichtbar sind. Andere große Auswertungen kommen zu demselben Schluss: Es gibt keinen Überlebensvorteil durch moderaten Alkohol-Konsum [2].
Medien-Mythen
Warum aber hält sich trotzdem die Idee, dass Alkohol gesund sei? Schwer zu sagen, immer wieder sind Institute, die stets neue gesundheitsfördernde Aspekte alkoholischer Aspekte in die Medien bringen, in Weinanbaugebieten angesiedelt. Zufall oder nicht? Kann ich nicht beantworten, aber hier ein paar Beispiele:
- „Wein schützt das Herz – wegen Resveratrol“. Resveratrol ist ein Pflanzenstoff in der Schale roter Trauben. In Tierversuchen wirkt er antioxidativ und entzündungshemmend. Klingt gut – nur: Die wirksamen Mengen liegen im Bereich von 100–500 mg pro Tag. Ein Glas Rotwein liefert gerade einmal 0,3 mg. Man müsste also hunderte Liter Wein trinken, um in die Nähe dieser Dosen zu kommen – und zwar pro Tag [3].
- „Bier ist eine Vitaminquelle“ Tatsächlich enthält Bier etwas Folsäure und geringe Mengen an B-Vitaminen. Aber: Alkohol verschlechtert gleichzeitig die Aufnahme von B1 und Folat – weshalb gerade Vieltrinker oft schwere Mangelerscheinungen entwickeln. Netto ist der Effekt negativ, Biertrinker verbrauchen mehr dieser Vitamine beim Alkoholabbau als sie durch das Bier aufnehmen [4].
- „Hopfen wirkt gegen Krebs – Xanthohumol im Bier“: Xanthohumol ist ein in der Tat spannender Stoff aus Hopfen. Im Labor zeigt er antikanzerogene Effekte. Aber: Im Bier liegt er nur noch in winzigen Spuren vor – meist 0,01 mg pro Liter. In Studien mit Menschen wurden dagegen 24 mg pro Tag eingesetzt. Man müsste also dutzende bis hunderte Liter Bier trinken, und zwar jeden Tag – eine absurde Vorstellung [5].
Übersicht: angebliche Wirkstoffe in Wein und Bier
| Stoff | Behaupteter Effekt | Menge im Getränk | Wirksame Dosis | Bessere Quelle |
|---|---|---|---|---|
| Resveratrol (Wein) | Gefäßschutz, Antioxidans | ~0,3 mg/Glas | 100–500 mg/Tag | Trauben, Beeren, Erdnüsse |
| Xanthohumol (Bier) | Antikanzerogen (präklinisch) | ~0,01–0,1 mg/L | ~24 mg/Tag | Hopfen-Extrakte |
| Folat (Bier) | B-Vitamin | ~20–100 µg/0,5 L | 400 µg/Tag | Gemüse, Hülsenfrüchte, Vollkorn |
| Polyphenole | Antioxidans | vorhanden, aber wenig | keine fixe Dosis | Obst, Gemüse, Tee |
Aber Achtung: Wer nun meint, dass er mit zwei Litern Bier am Tag doch genügend Folsäure abbekäme hat weiter oben überlesen, dass der Körper Folat und andere B-Vitamine beim Alkohol-Abbau verbraucht.
Welche gesundheitlichen Folgen hat Alkohol?
Soweit der halbwegs amüsante Teil. Aber welche Krankheiten fördert Alkohol?
- Krebs: Alkohol ist ein anerkanntes Karzinogen. Er erhöht das Risiko für Mund-, Rachen-, Speiseröhren-, Leber-, Darm- und besonders Brustkrebs. Schon ein Drink am Tag steigert bei Frauen beispielsweise das Brustkrebsrisiko messbar [6].
- Bluthochdruck und Herz: Das Risiko steigt nahezu linear mit der Trinkmenge – es gibt keinen Schwellenwert, unter dem es sicher wäre. Auch Herzrhythmusstörungen wie Vorhofflimmern treten häufiger auf [7].
- Leber: Fettleber, Hepatitis, Zirrhose – auch bei moderatem Dauertrinken kann die Leber Schaden nehmen.
- Gehirn und Nerven: Alkohol schädigt Nervenzellen, stört die Vitaminaufnahme (v. a. B1) und kann zu bleibenden kognitiven Defiziten führen.
- Sexuelle Gesundheit: Bei Männern erhöht chronischer Konsum die Wahrscheinlichkeit einer Erektionsstörung deutlich – durch Hormonstörungen, Nervenschäden und Gefäßprobleme. Bei Frauen zeigen aktuelle Meta-Analysen sogar ein um 74 % höheres Risiko für sexuelle Dysfunktion bei Trinkenden im Vergleich zu Nichttrinkenden [8].
Wichtige Fakten in Kürze
| Thema | Kernaussage |
|---|---|
| Sterblichkeit | „Moderates“ Trinken verlängert das Leben nicht, wenn Bias berücksichtigt wird (JAMA Netw Open 2023; Stockwell et al. 2024). |
| Kein sicheres Level | WHO: „No level of alcohol consumption is safe for our health.“ Risiken ab dem ersten Schluck. |
| Resveratrol | Wirksame Menge ~500 mg/Tag – ein Glas Wein liefert nur ~0,3 mg. Vorteil ≠ Ethanol. |
| Bier-Vitamine | Folat messbar, aber zu wenig. Ethanol verschlechtert B-Vitamin-Status. Netto negativ. |
| Herz-Kreislauf | Risiko für Bluthochdruck & Vorhofflimmern steigt ohne Schwelle. Abstinenz senkt VHF-Rezidive. |
| Sexuelle Funktion | Starke Evidenz für Schäden bei hohem Konsum. Bei moderaten Mengen uneinheitlich (Männer), bei Frauen +74 % Risiko für Dysfunktion. |
Schlussgedanke
„Ein Gläschen ist doch gesund” – dieser Satz ist bequem, aber falsch. Ja, Wein und Bier enthalten Stoffe, die im Labor vielversprechend wirken. Doch die Mengen sind so winzig, dass sie praktisch nichts beitragen. Um hier auf wirksame Mengen zu kommen, müsste man teilweise bis zu 100 Liter Wein oder Bier am Tag trinken. Weder realistisch noch sinnvoll noch möglich.
Die Dosis macht das Gift, weiß man seit der Antike — und die Dosis in Wein/Bier ist so klein, dass man hunderte bis tausende Liter trinken müsste, um die in Studien verwendeten Mengen an Pflanzenstoffen zu erreichen. Bessere Quellen: Beeren, Traubensaft, Tee, Gemüse – oder gezielte Supplementierung.
Wer also wirklich etwas für seine Gesundheit tun möchte, sollte auf Beeren statt Rotwein, auf Tee statt Bier und auf alkoholfreie Alternativen setzen. Damit bekommt man die nützlichen Pflanzenstoffe – ohne die Risiken.
| Thema | Kurzfazit |
|---|---|
| Resveratrol (Wein) | 1 Glas ≈ 0,3 mg → Studien-Dosis ~500 mg = ca. 263 L Wein nötig. |
| Xanthohumol (Bier) | Typisch 0,01 mg/L → 24 mg = ca. 2400 L Bier nötig. |
| Folat (Bier) | 4–8 L Bier liefern rechnerisch den Tagesbedarf – aber Alkohol verschlechtert die Verwertung. Netto negativ. |
| Polyphenole allgemein | Vorhanden, aber in Wein/Bier viel weniger als in Beeren, Obst, Gemüse oder Tee. |
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Ist ein Glas Wein am Tag wirklich gesund?
Nein. Der Eindruck kommt aus verzerrten Studien, in denen z. B. ehemalige Trinker (oft schon krank) mit echten Abstinenten in eine Gruppe geworfen wurden.
Vergleicht man sauber, verschwindet der angebliche Vorteil sofort. Die WHO sagt klar: Es gibt kein sicheres Level von Alkoholkonsum.
Ja, aber in winzigen Mengen. Ein Glas Wein hat nur ~0,3 mg Resveratrol, Studien arbeiten mit ~500 mg.Enthalten Wein oder Bier nicht wertvolle Stoffe wie Resveratrol oder Vitamine?
Für Xanthohumol im Bier bräuchte man teils tausende Liter, um auf wirksame Dosen zu kommen.
Vitamine im Bier werden durch den Alkohol sogar konterkariert.
Bessere Quellen sind Beeren, Trauben, Gemüse oder Tee.
Alkohol erhöht das Risiko für Krebs (z. B. Brustkrebs ab 1 Drink/Tag), Bluthochdruck und Herzrhythmusstörungen,Welche Krankheiten kann schon geringer Alkoholkonsum fördern?
schädigt die Leber und kann zu sexueller Dysfunktion führen.
Schon kleine Mengen haben messbare Effekte – daher gilt: Je weniger, desto besser.
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Dr. med. Bernd Guzek
Arzt, Autor, Angehöriger & Mitbegründer von Alkohol adé
Beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den biochemischen Grundlagen von Sucht und Hirnstoffwechselstörungen sowie deren Beeinflussung durch Nährstoffe.
- Stockwell T, et al. Why Do Only Some Cohort Studies Find Health Benefits from Low-Volume Drinking? Journal of Studies on Alcohol and Drugs. 2024.
- Zhao J, et al. Association Between Daily Alcohol Intake and Risk of All-Cause Mortality. JAMA Network Open. 2023.
- Lamuela-Raventós RM. Resveratrol: origin, metabolism, and impact on health. Crit Rev Food Sci Nutr. 2017.
- Netdoktor.at / DGE / NIAAA – Informationen zu B-Vitaminen & Alkoholstoffwechsel.
- Stevens JF, Page JE. Xanthohumol and related prenylflavonoids from hops and beer: to your good health? Phytochemistry. 2004.
- WHO, WCRF, NCI Cancer Fact Sheet: Alkohol und Krebs.
- Roerecke M, et al. Alcohol consumption and risk of hypertension/atrial fibrillation. Meta-Analysen 2023–2024.
- Peng Y, et al. Alcohol consumption and female sexual dysfunction: a meta-analysis. 2023; sowie aktuelle Reviews zu ED bei Männern.
- WHO Europe. No level of alcohol consumption is safe for our health. 2023.


