Von Dr. med. Bernd Guzek
“Der Wecker klingelt, ich bin völlig gerädert. Die erste Nachthälfte verdient die Bezeichnung Schlaf nicht. Koma wäre treffender. Um drei Uhr knallwach, mit dem üblichen Herzrasen. Gedankenkarussell. Alltagsdinge pusten sich zu riesigen Angstgespenstern auf und sitzen als schwarze Krähen auf meinem Kopfkissen. Irgendwann verziehen sie sich wieder, und ich schlafe ein. Zwei Stunden noch – dann muss ich raus”, schreibt Gaby Guzek im Buch “Alkohol adé” über das, was die meisten Menschen mit problematischen Alkoholkonsum kennen: Einen völlig gestörten Schlaf.
Warum man zunächst schneller einschläft
Dieser Beitrag dient der Aufklärung und ersetzt keine ärztliche Untersuchung oder Behandlung. Bei akuten Beschwerden wenden Sie sich bitte an einen Arzt oder die Notfallnummern in Ihrem Land.
Wie kommt das? Wir schauen uns das mal an: Alkohol wirkt im Gehirn zu Anfang wie ein starkes Schlafmittel. Der Stoff verstärkt die Wirkung des hemmenden Botenstoffs GABA und macht Nervenzellen träge. Gleichzeitig steigt der Spiegel von Adenosin, jenem Molekül, das tagsüber Müdigkeit aufbaut und abends den Schlafdruck erzeugt. Mit beidem zusammen täuscht Alkohol dem Körper vor, es sei höchste Zeit zum Einschlafen. Das erklärt, warum viele Menschen nach dem Trinken ungewöhnlich schnell wegdämmern.
Aber es erklärt auch, warum sich nicht wenige Alkoholiker ab morgens um drei schlaflos im Bett wälzen, sich plötzlich wahnsinnige Sorgen machen – oder entweder die Garage aufräumen gehen, die Küche putzen oder Facebook mit Memes überschwemmen.
Das Erwachen um drei Uhr morgens
Denn der Schlaf, den Alkohol bringt, ist kein natürlicher Schlaf. Nach wenigen Stunden kippt das Bild. Der Adenosin-Spiegel, den Alkohol künstlich hochgetrieben hat, fällt abrupt ab – der Schlafdruck bricht zusammen. Parallel dazu greift Alkohol tief in die hormonellen Steuerungen des Schlafs ein.
Im Zentrum steht eine Struktur im Hirn mit dem nicht ganz so leicht zu merkenden Namen Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse), die Stressreaktionen reguliert. Das wichtigste Stresshormon dieser Achse ist das Cortisol, das zugleich das natürliche Aufwachhormon des Körpers ist.
Normalerweise folgt Cortisol einem klaren Tagesrhythmus: nachts niedrig, am frühen Morgen ansteigend. Alkohol aber stört diesen Ablauf gleich doppelt. Einerseits aktiviert er schon früh im Abend die Freisetzung von Stresshormonen – über Corticotropin-Releasing-Hormon (CRH) im Hypothalamus, weiter zu ACTH in der Hypophyse bis hin zur Cortisol-Ausschüttung in der Nebenniere. Andererseits verhindert er den normalen nächtlichen Cortisol-Abfall. Das Gehirn bleibt deshalb permanent in Alarmbereitschaft, anstatt sich zu beruhigen. Bei chronischem Konsum kommt es tagsüber zu einer Abflachung der Stressantwort, während nachts dann eine Überaktivität Party feiert – der Rebound ist dann besonders stark spürbar.
Alkohol und Schlaf: Das Thema im Video
Gestörter Hormonrhythmus: Cortisol und Melatonin
Eng verknüpft damit ist die Störung des Melatonin-Rhythmus. Melatonin ist unser „Schlafhormon“, das in der Zirbeldrüse unter Kontrolle der inneren Uhr produziert wird. Alkohol hemmt seine Ausschüttung und verschiebt seine zeitliche Kurve – damit dann auch die innere Uhr. Dadurch fehlt ein entscheidendes Signal für nächtliche Erholung.
Besonders in der zweiten Nachthälfte – wenn Melatonin normalerweise hoch und Cortisol niedrig sein sollte – entsteht ein Missverhältnis: zu wenig Melatonin, zu viel Cortisol. Viele Betroffene erleben genau dann das abrupte Erwachen, oft begleitet von Herzklopfen, Schweißausbrüchen und Panikgefühlen.
Unterzuckerung und nächtliche Stresshormone
Zusätzlich stört Alkohol die Blutzucker-Regulation. Da er die Zuckerneubildung in der Leber blockiert, kann es nachts zu Unterzuckerungen kommen. Nicht wenige Alkoholiker treibt es dann zum Kühlschrank für eine nächtliche Vesper, die das Körperfett wachsen lässt. Der Körper reagiert auf den absackenden Blutzucker wieder mit einer Gegenregulation durch Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol – Hormone, auch bekannt als Fluchthormone. Allesamt machen sie wach und kurbeln den Kreislauf an.
Aber das ist noch längst nicht alles. Denn auch der Schlafrhythmus selbst wird durcheinandergebracht. Die für Gedächtnis und emotionale Verarbeitung wichtigen REM-Phasen werden in der ersten Nachthälfte fast vollständig unterdrückt. In der zweiten Nachthälfte folgt dann ein REM-Rebound: besonders intensive Traumphasen, die Albträume oder wirre Träume fördern – und dann leider ebenfalls zum Aufwachen beitragen.
So treffen mehrere Mechanismen in den frühen Morgenstunden zusammen: Der Abfall des Adenosin-Spiegels, die Überaktivität der HPA-Achse mit zu viel Cortisol, die Hemmung des Melatonins, Blutzuckerschwankungen und der REM-Rebound. Das Ergebnis ist das typische Muster, das viele Betroffene kennen: schnelles Einschlafen nach dem Trinken – und dann das abrupte Erwachen gegen drei Uhr morgens, oft begleitet von Panikattacken oder einer unruhigen, schlaflosen Restnacht.
Wer’s genauer wissen will: Molekulare Basis der Sedierung durch Alkohol
Die schnelle Einschlafneigung nach Alkoholkonsum beruht auf mehreren parallelen Mechanismen:
- GABA_A-Rezeptoren: Alkohol dockt an den GABA-Rezeptoren an und verstärkt deren Wirkung. Er verlängert die Öffnungszeit der Chloridkanäle und verstärkt so die Hemmung postsynaptischer Neuronen. Ergebnis: weitreichende Dämpfung der Erregbarkeit im Kortex und Thalamus, was zum schnellen Einschlafen führt.
- Glutamat-System: Während GABA das Bremspedal drückt, nimmt Alkohol gleichzeitig Glutamat, den ‚Gaspedal-Botenstoff‘, aus dem Spiel. So wird die Aktivität im Gehirn gleich doppelt heruntergefahren.
- Adenosin: Der Spiegel steigt rasch an, Adenosin bindet an A1-Rezeptoren und fördert den Schlafdruck.
- Autonome Dysbalance: Schon in der Akutphase verschiebt Alkohol das Gleichgewicht zwischen Sympathikus (erregend) und Parasympathikus (beruhigend). Der parasympathische Bremseffekt wird geschwächt, während sympathische Aktivität relativ zunimmt. Dadurch steigt die nächtliche Herzfrequenz an – ein Faktor, der nicht nur das Einschlafen instabil macht, sondern auch die nächtlichen Aufwachreaktionen (Herzrasen, Unruhe, Craving) begünstigt.
Diese kombinierte Wirkung – Hemmung der Erregung, Verstärkung der Inhibition und Störung der vegetativen Balance – erklärt, warum schon bei Blutalkoholwerten um 0,5–1,0‰ die Einschlafzeit deutlich verkürzt ist (oft 10–20 Minuten), der Schlaf jedoch von Anfang an biologisch instabil bleibt.
Alkohol und die innere Uhr
Die innere Uhr sitzt im Suprachiasmatischen Nucleus (SCN) des Hypothalamus, der zu den entwicklungsgeschichtlich ältesten Strukturen des Gehirns zählt. Er gehört zum Zwischenhirn und entwickelte sich bereits bei frühen Wirbeltieren. Seine Funktionen, wie die Regulation von Hunger, Durst, Temperatur und Fortpflanzung, sind essenziell für das Überleben und wurden im Laufe der Evolution weitgehend konserviert – basale Überlebensmechanismen werden hier gesteuert.
Ausgerechnet hier verändert Alkohol wichtige Mechanismen: Besonders die Expression wichtiger Gene wie PER2 und CLOCK wird gestört. Dadurch verschiebt sich der circadiane Rhythmus – ganz ähnlich wie bei einem Jetlag. Hinzu kommt, dass äußere Zeitgeber wie Licht (über retinale Ganglienzellen) oder Mahlzeiten weniger wirksam sind, weil Alkohol die Sensitivität des SCN mindert. Die Folge: Die Abstimmung zwischen innerer Uhr und Umwelt gerät aus dem Takt.
Chronischer Jetlag durch Alkohol
Wer regelmäßig trinkt, lebt in einer Art chronischem biologischem Jetlag – mit verschobenem Schlaf-Wach-Muster, instabilen Hormonsignalen und erhöhter Neigung zum nächtlichen Erwachen. Das kostet den Körper Nacht für Nacht wertvolle Regeneration: Tiefschlaf und REM-Phasen kommen zu kurz, die Verarbeitung von Erlebnissen, Gefühlen und Erinnerungen bleibt lückenhaft.
Die Folgen spürt man am nächsten Tag: Müdigkeit, Konzentrationsstörungen, Reizbarkeit und ein geschwächtes Immunsystem. Langfristig steigt das Risiko für Stoffwechselstörungen wie Übergewicht oder Diabetes, ebenso für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Depressionen. Besonders tückisch: Das Schlafdefizit verstärkt das Craving, also das Verlangen nach Alkohol als vermeintliche „Selbstmedikation“, auch um wieder einschlafen zu können – und so setzt sich der Teufelskreis fort.
Ein erholsamer Schlaf stellt sich deshalb oft erst dann wieder ein, wenn Alkohol vollständig weggelassen wird und der Körper die Chance hat, seinen natürlichen Rhythmus zurückzufinden. Zu dem Thema haben die Mitglieder unseres kostenlosen und anonymen Forums schon viele Tipps untereinander ausgetauscht.
FAQ – häufig gestellte Fragen
Warum wache ich nach Alkoholkonsum nachts oft gegen drei Uhr mit Herzrasen und Angst auf?
Alkohol stört den nächtlichen Hormonrhythmus. Gegen drei Uhr steigt das Aufwachhormon Cortisol natürlicherweise an und fällt unter Alkoholeinfluss oft übermäßig stark aus. Zusätzlich führen Blutzuckerschwankungen und Stresshormone wie Adrenalin und Noradrenalin zu Herzrasen und innerer Unruhe. Das begünstigt das plötzliche Erwachen mit Angstgefühlen.
Alkohol verkürzt häufig die Einschlafzeit. Er mindert jedoch Tiefschlaf und REM-Phasen und macht den Schlaf fragmentiert. Das nächtliche Aufwachen wird wahrscheinlicher. Unter dem Strich verschlechtert Alkohol die Schlafqualität.Hilft Alkohol beim Einschlafen oder schadet er dem Schlaf insgesamt?
Das ist individuell verschieden. In den ersten Wochen sind Ein- und Durchschlafprobleme häufig. Danach bessern sich Schlafqualität und Erholung meist deutlich. Nach einigen Monaten findet der Körper in der Regel zu einem stabilen natürlichen Schlafrhythmus zurück.Wie lange dauert es, bis sich der Schlaf nach dem Aufhören mit Alkohol wieder normalisiert?
REM steht für „Rapid Eye Movement“, also die Traumphase des Schlafs. Alkohol unterdrückt diese Phase in der ersten Nachthälfte fast vollständig. Wenn der Alkoholspiegel später sinkt, holt das Gehirn die fehlenden Traumphasen nach – oft sehr intensiv und unruhig. Dieser sogenannte REM-Rebound führt zu lebhaften Träumen oder Albträumen und trägt häufig zum Aufwachen in der zweiten Nachthälfte bei.Was bedeutet REM-Rebound nach Alkoholkonsum?
Alkohol blockiert in der Leber die Neubildung von Zucker. Sinkt der Blutzucker in der Nacht, reagiert der Körper mit einer Gegensteuerung: Er schüttet Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol aus, um Energie bereitzustellen. Diese Stresshormone machen wach, erhöhen den Puls und können Herzklopfen oder Angstgefühle auslösen.Warum kommt es nach Alkoholkonsum nachts zu Unterzuckerung?
Aktuelle Beiträge in unserem Blog
- Ist Vitamin D ein Schlüsselvitamin gegen Sucht?
- Kontrolliert trinken? Warum das nicht funktioniert
- Nüchtern bleiben mit der 3-Minuten-Inventur
- Wissenschaft: Ein gestörter Hirnstoffwechsel kann Süchte auslösen
- Video-Blog: Darum zerstört Alkohol auf Dauer die Lust
- Alkohol, Potenz und Libido – darum zerstört der Rausch auf Dauer die Lust
- Nach dem Trinkgelage mitten in der Nacht an den Kühlschrank – warum ist das so?
- Videoblog: Einmal Alkoholiker, immer Alkoholiker?
- Darum macht GABA auf natürlichem Weg ruhig
- Endlich trocken – aber unglücklich

Dr. med. Bernd Guzek
Arzt, Autor, Angehöriger & Mitbegründer von Alkohol adé
Beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den biochemischen Grundlagen von Sucht und Hirnstoffwechselstörungen sowie deren Beeinflussung durch Nährstoffe.


