
Das Dry-Drunk-Syndrom bezeichnet Verhaltensweisen von trockenen Alkoholikern, die immer noch denen von Trinkern entsprechen. Dazu zählen etwa Depressionen, Angst– und Panikattacken und innere Leere.
Manche „Dry Drunks“ entwickeln ein fast feindseliges Verhalten gegenüber Angehörigen und Freunden, sind zornig über den „Zwang trocken sein zu müssen“ und neidisch auf alle, die nicht mit der Alkoholsucht kämpfen. Ein typisches Merkmal ist auch die starke Ich-Bezogenheit von Dry Drunks. Viele romantisieren ihre Zeit, in der sie noch getrunken haben und/oder ersetzen ihre Alkoholsucht mit einer anderen wie etwa nach Sex, Internet oder Essen.
Der bekannteste Dry Drunk-Patient war Bill W., einer der Gründer der Anonymen Alkoholiker. Er beendete das Problem für sich durch ein Nährstoffkonzept, dass er zusammen mit dem Arzt Abram Hoffer entwickelte, konnte es aber bei den Anonymen Alkoholikern nicht durchsetzen. Im Mittelpunkt des Konzeptes stand Vitamin B3 (Niacin).
Niacin, auch Vitamin B3 genannt, ist für den Energiestoffwechsel des Körpers unverzichtbar. Es bildet die Vorstufe für die Coenzyme NAD (Nicotinamidadenindinukleotid) und NADP (Nicotinamidadenindinukleotid-Phosphat). Diese beiden Moleküle steuern eine enorme Zahl biochemischer Reaktionen – von der Energiegewinnung in den Mitochondrien bis hin zur Reparatur von DNA und der Regulation von Stressreaktionen in der Zelle.
Gerade im Gehirn spielt NAD eine Schlüsselrolle: Es vermittelt die Umwandlung von Nährstoffen in nutzbare Energie (ATP) und ist an der Herstellung und am Abbau von Neurotransmittern beteiligt. Ein Mangel an Niacin kann deshalb zu Erschöpfung, Stimmungsschwankungen, Reizbarkeit und depressiven Symptomen führen – Beschwerden, die auch viele „Dry Drunks“ schildern.
Bei chronischem Alkoholkonsum steigt der Bedarf an B-Vitaminen deutlich. Alkohol stört die Aufnahme im Darm, erhöht den Abbau in der Leber und verschiebt das NAD⁺/NADH-Gleichgewicht massiv. Das führt nicht nur zu Energiemangel, sondern kann auch den Hirnstoffwechsel beeinträchtigen. Niacin in Form von Nahrungsergänzung oder als gezielte Therapie (wie sie Bill W. ausprobierte) soll helfen, diesen Mangel auszugleichen, das Energieniveau im Gehirn zu stabilisieren und Stimmungsschwankungen abzumildern.
Heute ist Niacin ein gut untersuchter Nährstoff. Therapeutisch wird es unter anderem bei Störungen des Fettstoffwechsels, in der Orthomolekularmedizin und experimentell auch bei psychiatrischen Erkrankungen eingesetzt. Für Alkoholkranke ist vor allem relevant, dass eine gute Versorgung mit Niacin – ebenso wie mit anderen B-Vitaminen – den Abbau von Energielosigkeit, Reizbarkeit und Depressionen unterstützen kann.
Mehr Informationen: Im Buch Alkohol adé | Auf dieser Website im Video-Bereich (englisch)
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Dr. med. Bernd Guzek #
Arzt, Autor, Angehöriger & Mitbegründer von Alkohol adé
Beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den biochemischen Grundlagen von Sucht und Hirnstoffwechselstörungen sowie deren Beeinflussung durch Nährstoffe.