Glycin ist die kleinste und einfachste Aminosäure. Es wirkt im Nervensystem als hemmender, entspannender Botenstoff.
Beim Alkoholiker kitzelt der Alkohol die Glycin-Wirkung auf Höchststände und entspannt deshalb zunächst. Der Körper hält irgendwann dagegen – und so bekommt dieses Nervenbotenstoff-System schwere Schlagseite.
Beim Wundstarrkrampf, auch bekannt als Tetanus, leiden die Kranken unter fürchterlichen Krämpfen, schlimmstenfalls bis in den Tod. Der Grund: Bakteriengifte verhindern, dass der Körper GABA und Glycin freisetzt. Den Muskeln der Betroffenen fehlen die Entspannungskommandos. Sie krampfen so stark, dass manchmal dabei sogar Knochen brechen.
Auch dieser Aminosäure ist die Pharmaindustrie schon auf der Fährte. Der Gigant Merck, Sharp & Dome hat im Jahr 2013 ein Patent für eine Substanz erhalten, die für mehr Glycin am Nerven sorgt. An Nagetieren hat der Hersteller seinen Wirkstoff bereits getestet. In der Patentschrift steht, dass die Substanz sehr deutlich das Verlangen nach Alkohol reduzieren soll.
Glycin entspannt nicht nur. Es fördert auch zusammen mit Vitamin B3 (also Niacin) die Produktion des so genannten Wachstumshormones. Das ist so was wie die universelle Reparatursubstanz des Körpers. Außerdem ist Glycin Bestandteil des Glutathions. Das ist eine der stärksten Zellschutz-Substanzen überhaupt und ebenfalls so eine Art Körperfeuerwehr, wenn es um Heilung geht. Damit leistet Glycin auch noch einen super Beitrag, damit der Körper sich vom Alkohol erholen kann.
Glycin und Alkohol #
Glycin ist nicht nur ein einfacher Eiweißbaustein, sondern ein bedeutender hemmender Neurotransmitter im Rückenmark und im Hirnstamm. Es wirkt dort wie eine Art „Gegengewicht“ zu erregenden Signalen und ist damit zentral für Muskelentspannung, Schmerzhemmung und innere Ruhe.
Alkohol verstärkt diese Glycin-Signale künstlich – daher die typische anfängliche Entspannung nach den ersten Gläsern. Mit zunehmendem Konsum reguliert das Nervensystem jedoch gegen: Glycinrezeptoren werden weniger empfindlich, und das ganze System kippt in eine dauerhafte Dysbalance. In der Folge treten Unruhe, Schlafstörungen und eine verminderte Stressresistenz auf, sobald kein Alkohol mehr im Spiel ist.
Gerade im Entzug zeigt sich, wie wichtig Glycin eigentlich ist: Ohne die normale hemmende Wirkung kommt es zu Zittern, vegetativer Übererregung und Krampfanfällen – Symptome, die zusätzlich durch das gleichzeitig gestörte GABA-System verstärkt werden.
Glycin als Schutz- und Reparaturfaktor #
Über seine Rolle im Nervensystem hinaus ist Glycin ein Baustein des Glutathions, des wichtigsten körpereigenen Antioxidans. Damit hilft es, Zellen vor den freien Radikalen zu schützen, die beim Alkoholabbau in der Leber in großen Mengen entstehen. Ein guter Glycinspiegel unterstützt also die Entgiftung und Regeneration der Leberzellen.
Zusätzlich wirkt Glycin über die Verbindung mit Niacin an der Bildung von Wachstumshormon mit – wichtig für Gewebereparatur, Immunfunktion und Heilungsprozesse. Nach langen Jahren mit Alkohol ist das ein entscheidender Beitrag, damit sich Körper und Gehirn überhaupt wieder stabilisieren können.
Perspektiven aus der Forschung #
Dass Pharmaunternehmen gezielt auf das Glycin-System setzen, ist kein Zufall. In Tierstudien konnte eine verstärkte Glycinwirkung tatsächlich das Verlangen nach Alkohol senken. Klinische Studien am Menschen stehen hier noch am Anfang, aber sie deuten darauf hin, dass Glycinrezeptoren ein spannendes neues Ziel in der Suchtmedizin sein könnten.
Mehr Informationen: Buch Alkohol adé | Wikipedia | Doccheck
Dr. med. Bernd Guzek #
Arzt, Autor, Angehöriger & Mitbegründer von Alkohol adé
Beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den biochemischen Grundlagen von Sucht und Hirnstoffwechselstörungen sowie deren Beeinflussung durch Nährstoffe.